Die geplante Überarbeitung der EU-Pauschalreiserichtlinie soll Verbraucher besser schützen. Doch Artikel 12 könnte zum Bumerang werden. Für kleine Busreiseveranstalter drohen unkalkulierbare Haftungsrisiken. Die EU will das Rücktrittsrecht bei Pauschalreisen erweitern. Was als Verbraucherschutz gedacht ist, könnte viele mittelständische Busreiseveranstalter gefährden.
In Brüssel verdichtet sich die Spannung. Am 19. November soll im Trilog erneut über eine Neufassung der EU-Pauschalreiserichtlinie verhandelt werden. Was in der europäischen Gesetzessprache technokratisch klingt, könnte für viele Busreiseveranstalter in Deutschland zu einer wirtschaftlichen Bedrohung werden. Der Kern des Streits liegt in einem unscheinbaren, aber folgenreichen Satz in Artikel 12: Reisende sollen künftig kostenlos vom Vertrag zurücktreten dürfen, wenn unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände am Abreiseort auftreten. Bislang galt dieses Recht nur für den Zielort. Mit dieser Erweiterung würde das wirtschaftliche Risiko einer Reise weit über das bisher Kalkulierbare hinausreichen.
Die Befürworter der Reform berufen sich auf die Erfahrungen der Pandemie, als Reisen wegen Lockdowns oder Quarantäneregeln scheiterten, ohne dass eine Rechtsgrundlage für kostenfreie Rücktritte bestand. Verbraucherschützer sehen darin eine Frage der Fairness und des Vertrauens in die Pauschalreise. Für die Veranstalter dagegen wäre es ein Schritt in die Unkalkulierbarkeit. Denn die neue Regelung verlagert alle Risiken, die bislang beim Reisenden lagen, auf die Unternehmen – unabhängig davon, ob die Reise am Zielort überhaupt beeinträchtigt ist.
Gerade die mittelständischen Busreiseveranstalter, meist Familienbetriebe mit langen Traditionen, sind von dieser Änderung unmittelbar betroffen. Ihre Geschäftsmodelle beruhen auf präziser Planung, verbindlichen Teilnehmerzahlen und engen Kalkulationen. Schon kleine Störungen können über Rentabilität oder Verlust entscheiden. Wenn künftig unklare Wetterlagen, lokale Warnungen oder subjektive Sicherheitsgefühle der Kunden genügen, um einen kostenlosen Rücktritt auszulösen, ist der Schaden programmiert. Eine Gewitterwarnung, ein Streik im Nahverkehr, ein Verkehrschaos am Busbahnhof. Alles könnte zum Anlass werden, ganze Gruppenreisen zu stornieren. Die Mindestteilnehmerzahl würde unterschritten, die Reise müsste abgesagt werden, der Veranstalter müsste den Kunden alle Kosten erstatten und gleichzeitig die eigenen Zahlungsverpflichtungen gegenüber Hotels, Gastronomiebetrieben und anderen Leistungsträgern erfüllen.
Die Busunternehmer stünden damit vor einem Dilemma: Sie können das tatsächliche Vorliegen außergewöhnlicher Umstände am Abreiseort gar nicht prüfen. Es gibt im Inland keine offiziellen Stellen, die eine Reisewarnung herausgeben. Ohne diese Grundlage fehlt jede Rechtssicherheit. Der Veranstalter kann weder belegen, dass der Rücktritt unberechtigt war, noch hat er Anspruch auf Erstattung seiner Vorleistungen. Er bleibt auf den Kosten sitzen, während die Reisenden ihr Geld zurückbekommen. Der wirtschaftliche Schaden wäre für viele Betriebe existenzbedrohend.
Die Branche warnt vor einer Welle von Prozessen, wenn der Artikel in dieser Form bleibt. Jedes Storno könnte zum Streitfall werden. Ob ein Schneefall, ein lokaler Stromausfall oder ein Streik in der Heimatstadt ausreichen, um eine Reise kostenlos zu annullieren, würde im Zweifel ein Gericht klären müssen. Diese Rechtsunsicherheit würde nicht nur kleine Busunternehmen belasten, sondern auch Hotels, Paketreiseveranstalter und andere Partner, die auf verlässliche Buchungen angewiesen sind. Das System der Pauschalreise droht an seinem eigenen Schutzgedanken zu zerbrechen.
Die EU-Kommission verteidigt die Reform mit dem Argument, man wolle die Verbraucherrechte stärken und die Lehren aus den Krisenjahren ziehen. Das Europäische Parlament geht noch weiter und drängt darauf, dass auch Reisewarnungen anderer Staaten oder internationaler Organisationen berücksichtigt werden sollen. Außerdem soll das kostenfreie Rücktrittsrecht schon dann greifen, wenn vier Wochen vor Reisebeginn Hinweise auf außergewöhnliche Umstände vorliegen. Damit würde sich die Planungsunsicherheit für Veranstalter noch vergrößern.
Im Rat der Europäischen Union hingegen mehren sich die kritischen Stimmen. Vor allem Deutschland, als größter Pauschalreisemarkt Europas, drängt auf Korrekturen. Die Bundesregierung teilt die Sorge der Branche, dass die Richtlinie in ihrer jetzigen Form den Mittelstand überfordert. Das Bundesjustizministerium plädiert dafür, die Rücktrittsrechte wieder auf das Zielgebiet zu beschränken und nur eindeutig behördlich bestätigte Gefahrenlagen anzuerkennen. Auch soll klargestellt werden, dass eine Reise nicht allein deshalb unzumutbar ist, weil sie erschwert oder verzögert werden könnte.
Auch die sogenannten 24-Stunden-Regelungen, nach denen mehrere Einzelleistungen, die innerhalb eines Tages gebucht werden, automatisch als Pauschalreise gelten sollen, sorgen für zusätzlichen Unmut. Sie würden kleine Reisebüros und Busunternehmen mit neuen Pflichten und Haftungsrisiken belasten, ohne dass der Kunde davon tatsächlich mehr Schutz hätte. Während das Parlament die Regelung als Schritt gegen Umgehungstricks großer Onlineanbieter feiert, sehen viele Mittelständler darin den nächsten Schritt zur Überregulierung.

Die wirtschaftliche Realität ist einfach: Busreiseveranstalter finanzieren ihre Leistungen über Vorauszahlungen und Gruppenkalkulationen. Wenn sie plötzlich in der Pflicht stehen, bereits gezahlte Summen sofort zu erstatten, ohne selbst Ansprüche gegenüber ihren Vertragspartnern durchsetzen zu können, bricht ihnen die Liquidität weg. Viele verfügen weder über Rücklagen noch über rechtliche oder administrative Kapazitäten, um langwierige Rückabwicklungen zu managen. Das Risiko, dass Unternehmen mit jahrzehntelanger Tradition an einem unklaren Paragrafen scheitern, ist real.
In den Brüsseler Verhandlungen prallen unterschiedliche Interessen aufeinander: Die Kommission will politischen Gestaltungswillen zeigen, das Parlament fordert maximale Kundenrechte und die Mitgliedstaaten versuchen, die wirtschaftlichen Folgen abzufedern. Für die Busbranche geht es um mehr als juristische Details. Es geht um Planungssicherheit, Vertrauen und die Zukunft eines bewährten Reisemodells. Wenn die Balance zwischen Schutz und Verantwortung kippt, wird aus dem Instrument des Verbraucherschutzes ein bürokratisches Risiko, das niemand mehr tragen kann.
Roman Müller-Böhm
