Ikarus 120 E: Ungarische Traditionsmarke mit neuem Schwung

Der E-Bustest in Bonn fand im April 2023 bereits zum fünften Mal statt – und immer noch gibt es Hersteller, die sich erstmals im Rheinland dem Vergleich mit Mitbewerbern stellen. Der „Neue“ war der Ikarus 120 E aus ungarischer Produktion. Ob der Traditionsmarke Ikarus beim Neuanfang mit dem 120 E wie in ihrem Firmenlogo Flügel gewachsen sind, lesen Sie im sechsten Teil unseres Rückblicks auf den großen Vergleichstest.     
Ikarus, das sind 130 Jahre Firmengeschichte mit Tradition und Unterbrechung, als nach 1989 angestammte Märkte vor allem in Osteuropa und schließlich 2004 der Name Ikarus als Unternehmen verschwanden. Seit 2016 läuft die ungarische Omnibusproduktion wieder an, 2019 debütierte Ikarus mit einem Elektrobus auf der Busworld. Es hat sich viel getan am Produktionsstandort in Székesfehérvár, rund 65 km von Budapest entfernt. Ein Ergebnis der seit 2021 forcierten eigenen Entwicklungs- wie Designlinie ist der Ikarus 120 E, mit dem die Ungarn im April 2023 erstmals beim Bonner E-Bustest an den Start gingen.
„Mit freundlichen Grüßen aus Ungarn“: Der Anfang ist gemacht, der „Neue“ führt sich gleich mal mit warmen Worten – nachzulesen im Frontzielkasten des 120 E – beim Stelldichein der Teilnehmer aus mehreren europäischen Ländern in Bonn ein. An der Seite des weiß-schwarzen 12m -Busses fällt allerdings ein weiterer Schriftzug auf: Trasco Bus & Coach. Seit 2020 ist das Bremer Unternehmen mit seiner über 30 Jahre währenden Erfahrung im Fahrzeugbau exklusiver Vertreter von Ikarus in der D-A-CH-Region, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Partnerschaft umfasst das gesamte Leistungsspektrum vor und nach dem Buskauf, also u.a. Service, Ladeinfrastruktur, Schulung, Ersatzteil-Management und vieles mehr. Dazu zählen auch Kauf ohne Wartezeit – die Standard-Version des Ikarus 120 E wird vorproduziert, individuelle Kundenwünsche werden nach Absprache ergänzt – sowie eine 16 Jahre währende Anti-Korrosionsgarantie auf die Edelstahlkarosserie. Für die Batterien garantiert Ikarus acht Jahre Lebensdauer bzw. 3000 Ladezyklen.

Das Testfahrzeug war für Ungarn konzipiert

Der Innenraum kommt im Vergleich zu den Mitbewerbern relativ dunkel daher, das für den ungarischen Markt konzipierte Testfahrzeug ist weitgehend in schwarz (Ster-Sitze) und dunkelgrau (Boden und Seitenverkleidung) gehalten. Auch im Heck wird´s dunkel, die geschlossene Rückwand erlaubt trotz verbauter Fensterscheibe hinten keinen Blick nach draußen. Neben den getönten Seitenfenstern sorgen die Verkleidungen an der Decke in hellgrau für einen Lichtblick. Im Datenblatt zum Ikarus 120 E ist von freien Sitzgestellen und damit „einer leichten Bodenreinigung“ die Rede. Genau dieses darf aber bezweifelt werden, da Podeste vor und hinter den Radläufen montiert sind und vor allem die Haltestangen am Mitteleinstieg sowie am Mittelperron am Boden verschraubt sind, was die Reinigung nicht gerade einfacher macht. Wer also zur hinteren Sitzreihe gelangen will, muss zwei Podeste überwinden, was bei mir und anderen Fahrgasttestern gleichsam mit „Stolperfalle“ assoziiert wird. Oder er nimmt mit den zwei Kappsitzen Vorlieb, die an der Seitenwand des Mittelperrons vor den auf dem Boden in auffälligem Gelb markierten Plätzen für Rollstuhlfahrer oder Kinderwagen platziert sind. Dort befindet sich neben einem ausklappbaren Haltebügel für Kurvenfahrten und zwei Heizungskästen – vollelektrisch mit Wärmepumpe von Konvekta – auch ein Haltegurt, mit dem sich Rollstuhlfahrer anschnallen können.
Ein Blick auf meinen Bewertungsbogen als Fahrgasttester für den Innenraum des Ikarus 120 E offenbart fast ausschließlich Punkte im Mittelbereich. Also auf deutsch nicht schlecht, aber richtig gut eben auch nicht. Beispiel Haltegriffe: eigentlich ausreichende Menge im Fahrzeug, aber im Heck nahe der Stolperfalle fehlen diese. Beispiel USB-Buchsen: ja, gibt es, aber nicht auf allen Plätzen. Oder Haltewunschtaster: im hinteren Bereich des Busses kaum vorhanden oder viel zu weit weg für stehende Passagiere. Für Minuspunkte sorgte zudem die Geräuschkulisse. Kurvenfahrten und Unebenheiten auf der Teststrecke sorgen für Klappern und Scheppern, die Fahrt über ein Bodenloch tut richtig weh in den Ohren. Das ging nicht nur mir so, auch eine Rückfrage bei den fahrenden Testern offenbart mehr Vibrationen und Scheppern rund um das Lenkrad als gewohnt. Die starre Vorderachse überträgt die Unebenheiten auf der Straße direkt in den Wagenkasten. Davon sind die Passagiere im hinteren Bereich des Busses nicht so stark wie die Mitfahrenden vorne betroffen. Erschwerend hinzu kommt, dass dass die im Testfahrzeug verbauten, pneumatisch betätigten Innenschwenktüren ohne Gummiteile beim Öffnen und Schließen stets „mit Schmackes“ in ihre Verankerung gewuchtet werden. Lediglich das akustische Signal im Stil einer Melodie beim Betätigen des Türmechanismus sorgte für zumindest ein bisschen Wohlklang.

Der Motor zeigt sich agil


Die Ster-Sitze sind gut, die Beinfreiheit zwischen den Sitzen, Stangen etc. ist auch für größere Menschen aus eigener Erfahrung ausreichend. Zu den 33 Sitzmöglichkeiten kommen 58 Stehplätze hinzu, was den Ikarus 120 E mit Kapazitäten für 91 Personen ausweist. Leiser als man vermuten könnte, verrichtet der Zentralmotor von CRRC seinen Dienst. Der Antrieb der China Railway Rolling Stock Corporation zeigt sich agil und sorgt auch beim Anfahren am Berg für ordentlich Zugkraft. Das gefällt sowohl den Passagieren wie auch den Fahrern, deren Job dadurch angenehmer wird. Noch müssen diese mit den beengten Platzverhältnissen am Arbeitsplatz Vorlieb nehmen. Für die neue, für 2024 angekündigte Version des vollelektrischen 12-m-Busses kündigt der Hersteller beim 120 E V4 nicht nur einen modernen und aufgewerteten Fahrerarbeitsplatz an. Der Niederflurbus soll dem Vernehmen auch über eine Einzelradaufhängung vorne verfügen und den Kunden die Wahl bei den Batterien zwischen LFP und NMC ermöglichen. Vielleicht wird es ja auch weniger laut im Fahrbetrieb für alle Beteiligten, schön wär´s.

Fazit

Für Ikarus hat es sicher gelohnt, im April 2023 erstmals zum E-Bustest nach Bonn zu kommen. Schließlich präsentierten die Ungarn mit dem 120 E einen eigenen Elektrobus, der der Traditionsmarke gut zu Gesicht steht. Solide, ohne viel Schnickschnack, ein ÖPNV-Arbeitstier. Das verrichtet seinen Dienst zupackend, aber auch mit hörbarem Kraftaufwand und manchmal mit Ächzen und Stönen. 2024 kommt der 120 E V4 auf den Markt, da werden ein paar Störgeräusche sicherlich nicht mehr so laut zu vernehmen sein. Die Ikarus-Techniker, die im April 2023 in Bonn genau zuhörten, was Fahrer und Innenraumtester an Lob und Kritik für „ihren“ 120 E übrighatten, werden ihre Schlüsse daraus ziehen. Der Traditionsmarke Ikarus sind mit dem 120 E gewiss keine Adlerschwingen gewachsen, aber mit Blick auf den 2024 kommenden 120 E V4 darf man gespannt sein, wie die Ungarn den seit 2021 eingeleiteten neuen Schwung in die gute Tat umsetzen. Nimmt man den 120 E zum Maßstab, dann kommt man als (Fahrgast-)Tester zu folgendem Schluss: Okay, aber da geht noch was . . .



Ikarus 120 E/Technische Daten

Ausführung Testfahrzeug: zweitüriger Stadtbus

Länge: 12 m

Breite: 2,55 m

Höhe: 3,27 m

Leergewicht: 13040 kg

Zul. Gesamtgewicht: 18600 kg

Kapazität Zweitürer: 91, davon 58 Stehplätze, zwei Klappsitze an der Seitenwand Mitte

Kapazität Dreitürer: 28 Sitzplätze, zwei Plätze Sondernutzung, 55 Stehplätze (laut Herstellerangaben)

Stehflächen: Innenstehhöhe 2.470 mm

Einstiegshöhe: 340 mm

Türbreiten: 1200 mm vorne/hinten

Türantrieb: pneumatisch

Aufbau: Edelstahlgerippe auf Ikarus-eigenem Niederflur-Fahrwerk

Antrieb: Permanent-Magnet-Synchronmotor CRRC TZ400XS021

Batterien: CATL (LFP), Platzierung auf dem Dach und im Heck, Gesamtkapazität 315 kWh, davon nutzbar 296 kWh

Max. Ladeleistung Stecker: 120 kW

Reichweite: mindestens 350 km

Lenkung: Elektrohydraulisch HV

Bestuhlung Fahrgastraum: Ster

Fahrersitz: Pilot

Heizung/Klimaanlage: Valeo mit Wärmepumpe, Zusatzheizung fossil

Bereifung: 275/70 R 22,5

Außenspiegel: konventionell (Infrarot-Rückfahrkamera innen + Abbiegeassistent als Option)

Bildquelle: Ralf Theisen

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